Was hat so ein Fenster denn mit uns zu tun? Nun, auf den ersten Blick vielleicht nicht viel, doch wir fanden im Laufe der Annäherung heraus, dass wir mit 4B und ihrem Handwerk viel mehr gemeinsam haben, als wir dachten. Es geht um Präzision, das richtige Mass, sauberes Handwerk, gutes Material und Ästhetik – lauter Themen, mit denen wir als Schneider & Designer auch jeden Tag zu tun haben. Und so haben wir 4B im Laufe der letzten Monate nicht nur bei der Evaluierung der zeitgemässen Farben (Lasuren fürs Holz) und der passenden Griffe zur Seite gestanden, das Team und ihre Know-how kennengelernt und neue Freunde in Hochdorf gefunden, sondern auch eine Reihe von Content-Marketing-Massnahmen rund ums Renovationsfenster RF1 mit entwickelt.
Als Modemenschen sind wir uns an abrupte Wechsel und Überraschungen gewöhnt, in diesem Fach findet solches ja dauernd statt. Aber das, was nun passiert ist, ist schon ein Quantensprung, ein Paradigmenwechsel, eine Zeitenwende. Es geht zwar immer noch um Hemd, Hose und Jackett, aber doch ganz anders. Das Vertraute hat einen ganz neuen Dreh. Seit Anfang 2020, als die meisten Menschen sich (zumeist nicht ganz freiwillig) in ihr Schneckenhaus zurückzogen und erst Monate später wieder raus kamen, ist in der Menswear nichts mehr wie vorher. Die Verwerfungen der Pandemie haben Entwicklungen, die sich bereits abgezeichnet haben, in den Turbo-Modus geschaltet. Die «Casualisierung», also die Entwicklung der Alltagsgarderobe in Richtung Freizeit-Looks, bekam massiv Schub.
Das führt zu ganz neuen Begriffen, die wichtig sind: An die Stelle der Eleganz ist die Nonchalance getreten. Statt um den Fetisch Passform geht es nun um Komfort und Lässigkeit. Weichheit und Geschmeidigkeit sind keine unmännlichen Merkmale mehr, im Gegenteil: Klassisch maskulin ist ein alter Hut, die Stereotypen kommen immer mehr aus der Mode, der Mann erfindet sich neu, als kaleidoskopische Erscheinung zwischen den Klischees.
Was heute zählt: Die Entspanntheit, die Mühelosigkeit – hierfür hat die Mode den eleganten Begriff «Effortless» gefunden, also ohne Kraftanstrengung. Das Bemühen (der «Effort») um das Outfit darf nicht erkennbar sein. Der Auftritt muss immer so wirken, als habe man sich keine grossen Gedanken gemacht oder besondere Investments getätigt.
Von 2012 bis 2023 veranstaltete Jeroen van Rooijen eine jährlich stattfindende Velo-Lustfahrt für Ästheten, den so genannten Style Ride, der auf einem immer wieder neuen Parcours durch und um die Stadt Zürich führte und an dem jeweils zwischen 120 und 350 originell gestylte Menschen auf besonderen Fahrrädern teilnahmen.
Es stimmt gar nicht, dass die Mode sich dauernd und willkürlich ändert, das Gegenteil ist der Fall: Wirklich bedeutende Änderungen der Bekleidungsgewohnheiten dauern oft recht lange, bis sie im Mainstream an- kommen. Das sieht man etwa an der 1881 in London gegründeten «Rational Dress Society», einer damals neuen Bewegung für die modische Befreiung der Menschen. Offenbar lag zu dieser Zeit viel Neues in der Luft: Das Künstlergenie Pablo Picasso war geboren und Edisons Glühbirne eben erst erfunden worden.
Die vor 140 Jahren formulierten Forderungen der «Rational Dress Society» umfassten: 1. die Freiheit der Bewegung, 2. Druckfreiheit für den Körper (die Frauen trugen damals noch meist Korsette), 3. der Verzicht auf unnötiges Material und Gewicht, 4. Eleganz und Schönheit, kombiniert mit praktischen Qualitäten, und 5. die Abkehr von mutwilligen Mode-Gags.
Diese Gründungsakte liest sich doch eigentlich auch heute noch ganz vernünftig. Durchgesetzt hat sich die rationale Denkweise und Mode allerdings nicht. Schade drum. Doch im Grunde könnte man den Forderungskatalog der inzwischen verschwundenen Bekleidungsrevoluzzer auch heute noch aufstellen, man würde damit im Zeitalter der Nachhaltigkeit nicht falsch liegen Denn Wirklich Neues entsteht in der Mode nicht, wenn ein Gremium oder ein Modeschöpfer sich etwas in den Kopf setzt, sondern wenn sich die Lebensumstände oder Gewohnheiten der Menschen ändern.
Von 2022 bis 2024 schrieb Jeroen van Rooijen eine monatliche Kolumne für das Magazin „Touring“ des TCS Schweiz, Sektion Zürich. Die Kolumne zum Thema Stil & Verkehr erschiengedruckt mit einer Auflage von 684’000 Exemplaren in deutscher Sprache.